EDUCAREplus – Milieuspezifische Selbstsichten und Praktiken von Kindern, Eltern und pädagogischem Personal in Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungskontexten der frühen und mittleren Kindheit

 

 

Projektleitung: Prof.'in Tanja Betz

Projektmitarbeit: Dr. Frederick de Moll

Förderung: VolkswagenStiftung / Goethe-Universität/Frankfurt am Main

Laufzeit: 2017–2020

 

Die Studie im Überblick

Ausgangspunkt

In aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten über frühe Bildung, Betreuung und Erziehung werden vielfältige Handlungsaufforderungen an Kinder und Eltern sowie Fach- und Lehrkräfte in Kindertages-einrichtungen und Grundschulen herangetragen. Gerade im Kontext der Debatte um ungleiche Bildungs-chancen wird der jeweilige Beitrag der Familie und der institutionellen Kinderbetreuung zur schulvor-bereitenden Bildung von Kindern thematisiert. Vor allem Eltern aus prekären sozialen Milieus und Eltern mit Migrationshintergrund werden dazu angehalten, ihre Kinder verstärkt und möglichst frühzeitig zu fördern bzw. Förderangebote in Anspruch zu nehmen, um deren schulische Erfolgschancen zu erhöhen. Von früh-pädagogischen Fachkräften wird erwartet, zur Verbesserung der schulischen Startchancen von Kindern aus benachteiligten Familien beizutragen, etwa indem sie vermehrt schulvorbereitend tätig werden (Betz, 2010; Bischoff, 2017). Grundschulen und damit auch die Lehrkräfte sind dazu aufgerufen, im Sinne der Chancen-gleichheit intensiver mit Kindertageseinrichtungen und Eltern zusammenzuarbeiten, um anschlussfähige Bildungsprozesse zu ermöglichen (Betz, 2015; Betz et al., 2017). Diese und weitere Handlungsaufforderungen sind Teil von übergeordneten Leitbildern ‚guter‘ Kindheit, in denen sich die derzeit in Gesellschaft und Politik vorherrschenden Vorstellungen von einer optimalen Ausgestaltung des Kinderlebens niederschlagen (Betz,
de Moll & Bischoff, 2013; Betz & Bischoff, 2015).

Diese politisch und gesellschaftlich dominanten Leitbilder ‚guter‘ Kindheit und damit verbunden Leitbilder ‚guter‘ Elternschaft sowie ‚guter‘ Fach- und Lehrkräfte wurden im Projekt EDUCARE (Leitbilder ‚guter‘ Kindheit und ungleiches Kinderleben) detailliert untersucht. Wie die Akteure selbst ihr Handeln in Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungskontexten betrachten und bewerten, steht bislang jedoch weniger im Fokus der Forschung. Erste Befunde zu den Zielvorstellungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften weisen auf einen teilweise sehr unterschiedlichen, wenngleich nicht beliebigen Umgang mit schulischen Start- und Bildungschancen hin, was ungleichheitsrelevante Effekte zeitigen dürfte (Betz & de Moll, 2015). Unabhängig von den erwachsenen Akteuren erweisen sich auch die bildungs- und gesellschaftsbezogenen Denk- und Handlungsweisen von Kindern als herkunftsspezifisch strukturiert, weshalb es sich lohnen dürfte, Kinder in der Forschung zu bildungsbezogener Ungleichheit verstärkt als eigenständige Akteure zu berücksichtigen (Betz & Kayser, 2017; de Moll & Betz, 2016). Damit sind insgesamt einerseits die bildungsbezogenen Selbstsichten der Akteure angesprochen sowie andererseits ihre Praxis in den unterschiedlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungskontexten, in denen sie sich bewegen. Bislang wird kaum erforscht, inwieweit sich Familie und Kindertageseinrichtung oder Schule sowie weitere außerfamiliale Bildungs- und Betreuungskontexte im Sinne von Bildungs- und Betreuungsarrangements aufeinander beziehen lassen (de Moll, 2017). Die Bildungs- und Betreuungsarrangements können milieuspezifische Passungsverhältnisse zwischen institutioneller auf der einen und familialer Bildung, Betreuung und Erziehung auf der anderen Seite sichtbar machen.

Zielsetzung und Fragestellung

Das grundlagenorientierte Projekt EDUCAREplus zielt auf ein besseres Verständnis für das Zustandekommen und die Persistenz ungleicher Erfolgschancen von Kindern im Bildungssystem. Im Fokus stehen dabei die milieuspezifischen bildungsbezogenen Selbstsichten und Praktiken der relevanten Akteursgruppen: Kinder, Eltern, pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und Lehrkräfte an Grundschulen. EDUCAREplus greift die in der EDUCARE-Studie herausgearbeiteten Leitbilder ‚guter‘ Kindheit auf und fragt nach den Sichtweisen der Akteure auf ihr eigenes Handeln in unterschiedlichen familialen und nicht-familialen Kontexten sowie nach ihrer Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungspraxis in der frühen und mittleren Kindheit. Hierbei wird davon ausgegangen, dass sowohl die Sichtweisen der Akteure als auch deren Praktiken milieuspezifisch variieren und dass sich hieraus Konsequenzen für die Produktion und Reproduktion von Bildungsungleichheit in der frühen und mittleren Kindheit ergeben. Damit schließt das Projekt EDUCAREplus unmittelbar an das Projekt EDUCARE (Leitbilder 'guter‘ Kindheit und ungleiches Kinderleben an. Auf Basis der empirischen Ergebnisse werden Anregungen und Schlussfolgerungen für ungleichheitsbewusstes und milieusensibles Handeln in pädagogischen Kontexten erarbeitet (Betz & Kayser, 2016).

Die Projektziele lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Zusammenführung ungleichheits- und milieutheoretischer sowie kindheitstheoretischer Grundlagen zur Beschreibung und Operationalisierung der bildungsbezogenen Selbstsichten und Praktiken von Kindern, Eltern und pädagogischen Professionellen
  2. Empirische Analysen milieuspezifischer Differenzen in den Sicht- und Handlungsweisen der Akteure in Bezug auf Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen und mittleren Kindheit
  3. Erarbeitung praxisbezogener Schlussfolgerungen zur Stärkung des milieusensiblen pädagogischen Handelns in frühpädagogischen Einrichtungen und Grundschulen

 

Theoretische Grundlagen

In theoretischer Hinsicht wird zum einen an die gesellschaftstheoretischen Grundlagen bei Pierre Bourdieu angeschlossen. Hierbei werden drei Konzepte ins Auge gefasst, die im Hinblick auf die Projektziele zentral sind: soziales Milieu, Bildungs- und Betreuungspraxis sowie Habitus. Insbesondere Bourdieus Habitus-Konzept wird aktuell in der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung insbesondere empirisch-quantitativ kaum näher in den Blick genommen (indessen: Betz, de Moll & Kayser, 2015). In EDUCAREplus wird der Habitus von Kindern, Eltern und pädagogischen Professionellen im Sinne ihrer standortgebundenen Perspektive auf Bildung, Betreuung und Erziehung gefasst, kurz: ihrer bildungsbezogenen Selbstsichten.

Zum anderen wird an die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung angeschlossen. Damit ist eine stärkere Berücksichtigung der Perspektiven und des Handelns von Kindern und Erwachsenen in ihrem relationalen Verhältnis bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit verbunden (Agency und generationale Ordnung; Esser, Baader, Betz & Hungerland, 2016). Es wird analysiert, inwieweit Kinder selbst zur Produktion und Reproduktion von Bildungsungleichheit beitragen. Hier kann an Vorarbeiten im Rahmen der EDUCARE-Studie angeschlossen werden (u. a. de Moll, 2016; de Moll & Betz, 2016). Gerade mit Blick auf die Perspektiven von Kindern im Generationenverhältnis und somit auch gegenüber Erwachsenen in Bildungs- und Betreuungsinstitutionen ergeben sich Bezugspunkte zum Projekt „Bildungs- und Erziehungs-partnerschaft zwischen Familie und Grundschule: Positionen und Perspektiven von Kindern“, das aktuell ebenfalls im Arbeitsbereich durchgeführt wird.

Design und Methoden

Die EDUCAREplus-Studie ist als quantitative Sekundäranalyse angelegt. Zur Beantwortung der Projektfragestellung wird auf die Datensätze zurückgegriffen, die im Projekt EDUCARE generiert wurden. Insgesamt liegen sieben Datensätze mit den Fragebogenangaben unterschiedlicher Akteursgruppen vor:

  • Kinder an Grundschulen (N = 985)
  • Eltern mit Kindern in Kindertageseinrichtungen (N = 847)
  • Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen (N = 248)
  • Leitungspersonal in Kindertageseinrichtungen (N = 41)
  • Eltern mit Kindern in Grundschulen (N = 503)
  • Lehrkräfte an Grundschulen (N = 124)
  • Schulleitungen (N = 22)

Diese Daten werden vertiefenden multivariaten Analysen unterzogen. Dem multi-methodischen Ansatz des Vorgängerprojekts folgend werden zudem die ebenfalls in der EDUCARE-Studie erhobenen, qualitativen Daten erneut aufgegriffen und mit den Ergebnissen der Sekundäranalysen verbunden. Damit ergeben sich Synergien mit dem im Arbeitsbereich durchgeführten Projekt („Kinder zwischen Chancen und Barrieren. Wie Eltern, Kinder, Kita & Schule interagieren: Handlungsorientierungen, Überzeugungen und Handeln von Eltern, Fach- und Lehrkräften“), insofern darin eine sekundäranalytische Auswertung der qualitativen Interviewdaten von EDUCARE vorgenommen wird.

 

Literatur

Betz, T. & de Moll, F. (Hrsg.). (2019). Ungleichheitsbezogene Bildungsforschung – Kinder als Reproduzenten von Bildungsungleichheit. Schwerpunktheft. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 39 (3).

Betz, T. & de Moll, F. (2019). Ungleichheitsbezogene Bildungsforschung – Kinder als Reproduzenten von Bildungsungleichheit. Einführung in den Schwerpunkt. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Soziologie 39 (3), 225-228.

de Moll, F. (2019). Die Alltagsgestaltung von Kindern als Determinante des Schulerfolgs: Wie hängen lesekulturelle und mediale Praktiken mit dem Erfolg in der Grundschule zusammen? Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Soziologie 39 (3), 265-280.

de Moll, F. (2018). Familiale Bildungspraxis und Schülerhabitus. Außerschulische Reproduktionsmechanismen von Bildungsungleichheit in der Grundschulzeit. Weinheim: Beltz Juventa.

Betz, T. & Kayser, L. B. (2017). Children and Society. Children’s Knowledge About Inequalities, Meritocracy and the Interdependency of Academic Achievement, Poverty, and Wealth. American Behavioral Scientist, 61(2), 186–203.

Bischoff, S. (2017). Habitus und frühpädagogische Professionalität. Eine qualitative Studie zum Denken und Handeln von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Weinheim: Beltz Juventa.

de Moll, F. (2017). Soziale Ungleichheit jenseits der Kindertageseinrichtung: Miieuspezifische Bildungs- und Betreuungspraxen von Familien mit 2–6-jährigen Kindern. Pädagogische Rundschau, 71 (3/4), 305-334.

de Moll, F. & Betz, T. (2016). Accounting for children's agency in research on educational inequality: the influence of children's own practices on their academic habitus in elementary school. In F. Esser, M. S. Baader, T. Betz & B. Hungerland (Eds.), Reconceptualising Agency and Childhood. New perspectives in Childhood Studies (pp. 271–289). New York: Routledge.

Betz, T. & de Moll, F. (2015). Sozial situierte Erwartungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften an gute Kindertageseinrichtungen. Ein gesellschaftstheoretischer und empirisch-quantitativer Beitrag zur Qualitätsdebatte. In T. Schmidt & W. Smidt (Hrsg.), Professionalisierung in der Frühpädagogik (Empirische Pädagogik, 29(3). Themenheft, S. 371–392). Landau: Verlag Empirische Pädagogik.

Betz, T., de Moll, F. & Kayser, L. B. (2015). Soziale Determinanten des Lehrerhandelns. Milieuspezifische und berufsbiografische Einflussfaktoren auf die Kooperation und Kommunikation mit Eltern. In T. Betz (Hrsg.), Ungleichheitsbezogene Bildungsforschung – Lehrkräfte im Fokus (Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35(4). Schwerpunktheft, S. 377–395). Weinheim: Beltz Juventa.

Betz, T., de Moll, F. & Bischoff, S. (2013). Gute Eltern - schlechte Eltern. Politische Konstruktionen von Elternschaft. In Kompetenzteam Wissenschaft des Bundesprogramms "Elternchance ist Kinderchance", L. Correll & J. Lepperhoff (Hrsg.), Frühe Bildung in der Familie. Perspektiven der Familienbildung (S. 69–80). Weinheim: Beltz Juventa.

Betz, T. (2010). Kompensation ungleicher Startchancen. Erwartungen an institutionalisierte Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder im Vorschulalter. In P. Cloos & B. Karner (Hrsg.), Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung (S. 113–134). Hohengehren: Schneider Verlag.

 

Drittmittelgeber

Volkswagenstiftung

Das Projekt EDUCAREplus ist Teil des IDeA-Zentrums, einem interdisziplinären Forschungszentrum in Frankfurt am Main mit den Schwerpunkten Individuelle Entwicklung, Adaptive Bildungskontexte und Professionalisierung von Fachpersonal.